Guten Abend Frau Freitag. Ich hatte letzte Woche das alljährliche Personalgespräch und das ist sehr gut gelaufen. Fast zu gut. Ich werde nun (als Belohnung!) zu einer Weiterbildung verdonnert. Ich will aber keine Weiterbildung; ich brauche auch keine (ich mache den Job schon 12 Jahre) und habe keine Lust darauf, am Abend noch in einen Kurs zu sitzen. Das Angebot wäre aber sehr breit... es müsse nicht unbedingt mit meinem Bereich zu tun haben... es gebe auch "Allgemeines" wie Stressmanagement u. ä. Aber wie gesagt: Ich habe keine Lust dazu. Wozu soll es gut sein? Wie komme ich um den ganzen Ausbildungsdruck herum? Bruno, 52
Lieber Bruno
Da machen Sie Ihren Job seit nunmehr 12 Jahren und wie es scheint, seit nunmehr 12 Jahren zu aller Zufriedenheit und werden zur Belohnung zu einem Kürsli verdonnert und ich kann verdammt gut verstehen, dass Sie das furchtbar nervt. Natürlich weiss ich schon, dass Sie und ich mit dieser Meinung ziemlich allein auf weiter Flur stehen, weil die meisten Menschen sehr gerne ab und an ein Kürsli besuchen am Abend. Ob der Vorteil darin besteht, dass man dann mal wieder einen Abend für sich alleine und einen guten Grund, Zuhause abzuhauen hat, oder ob es wirklich ums Lernen geht, sei mal dahingestellt. Aber auch ich lerne nicht gerne auf Vorrat und auch ich finde diesen Trend vom ewigen Weiterbilden ohne Sinn und Verstand ziemlich daneben. Weil es manchmal einfach übers Ziel hinaus schiesst, wenn man etwas lernt, was man danach nie anwenden kann. Wohin das führen kann, haben mein charmanter Begleiter und ich vor zwei Wochen im Zug von Zürich nach Basel erfahren und es hat uns nachhaltig beeindruckt.
Da sassen wir also am frühen Abend in einem praktisch leeren Zug und uns war ein bisschen unheimlich, weil es in der Regel keine praktisch leeren Züge gibt, am frühen Abend. Aber es war ein Ersatzzug, wie uns die Durchsagestimme versicherte, und darum machten wir uns weiter keine Gedanken und fuhren frohen Mutes gen Basel. Wir waren kaum auf der Höhe von Killwangen-Spreitenbach, da kam auch schon ein geschlechtergemischtes Zweiergrüppli Kontrolleure durch den Zug und kontrollierte gemeinsam unsere Fahrscheine und unsere Halbtax Abos und alles geschah mit einem Vieraugen-System, wie man es vermutlich nur in der SBB kennt und sonst nirgends auf der Welt. Ich erkannte die Gunst der Stunde des praktischen leeren Zuges und des überdotierten Zugpersonals und stellte eine Frage, die ich mir insgeheim schon lange stelle, die ich zu fragen aber in vollen Zügen mit unterdotiertem Zugpersonal niemals gewagt hatte. Die Frage war schlicht und trotzdem nicht einfach und wie es in der Schweiz üblich ist, fragte ich erst, ob ich sie stellen dürfte und erst als beide auffordernd nickten, setzte ich mich gerade hin und stellte meine Frage, die da lautete: "Wie machen Sie es, dass sie auch auf langen Strecken mit vielen Stopps genau wissen, wen Sie noch kontrollieren müssen und wen Sie bereits kontrolliert haben? Warum wird man höchst selten doppelt kontrolliert und praktisch gar nie gar nie?"
Die beiden nickten zustimmend und als das letzte Loch in den Fahrschein gestanzt war, erklärte die Frau kurz und bündig, dass sie sich jeweils die leeren Plätze merkt, und ihr dann auffällt, wenn jemand Neues dasitzt, den sie noch kontrollieren muss. Sie beendete den Satz, wünschte uns eine gute Weiterfahrt und verschwand in den nächsten Wagen. Ihr Begleiter blieb derweil noch stehen, zupfte seine Uniformjacke zurecht, lehnte sich etwas lässig-steif an die Lehne und setzte zu seiner Antwort an, die erst kurz vor Basel endete und die ich hier gerne in Form des direkten Gespräches wiedergeben will, der Dramatik wegen.
Schaffner: Wir arbeiten ganz eng mit Psychologen zusammen und mit eigenen Profilern.
ich: Ach wirklich? Krass. Mit echten Profilern, wie man Sie vom Fernsehn kennt?
Schaffner: Ja, genau.
ich: Das überrascht mich jetzt. Ich hatte ja eher damit gerechnet, dass auch die Interaktion zwischen dem Fahrgast und dem Schaffner eine Rolle spielt. Ob er wegschaut, oder in seiner Tasche kramt oder so.
Schaffner: Nein, das spielt keine Rolle. Darauf dürfen wir uns hier nicht verlassen, wo denken sie hin! Jeder von uns hat sein eigenes System, dass er selber entwickelt über die Jahre. Schauen Sie, ich bin ja auch nur ein Mann! Und was denken sie, was fällt mir bei ihnen auf?
ich: ähm, ja... mhmm... keine Ahnung. Was fällt ihnen denn auf an mir?
Schaffner: Sie sind eine attraktive Frau, das darf ich schon sagen! Das kann sich ein Mann wie ich leicht merken! Und ihr Begleiter hier, der ist ja auch eher auffällig, müssen sie wissen! So einen rosa Pulli mit einem lila Unterliibli, das sieht man hier höchst selten! Diese Farbkombination! Sehr gelungen, aber auch sehr ausgefallen! Aber, (zum Begleiter gerichtet:) Sie können das mit ihren hellblauen Augen wirklich gut tragen. Das kann ja nicht jeder. Das steht den allermeisten gar nicht gut. Macht schnell käsig im Gesicht. Aber sie tragen das wirklich gut, diese hellen und fröhlichen Farben. Ich bin überzeugt, sie sind ein Frühlingstyp!
Begleiter: Was bin ich?
Schaffner: Sie sind ein Frühlingstyp!
Begleiter: Aber es ist doch Herbst.
Schaffner: Aber das hat doch damit nichts zu tun! In der Farbtypenlehre unterscheidet man zwischen 4 Typen beim Mann und 4 plus 2 Typen bei der Frau. Beim Mann spricht man von Frühling - Sommer - Herbst - Winter, während es bei der Frau noch weitere Unterkategorien gibt, wissen sie. Die Frauen brauchen es halt mal wieder etwas komplizierter, nicht wahr, hehe. Aber Sie sind mit Sicherheit ein Frühlingstyp, so wie ich selber auch. Kein anderer kann diese Pastellfarben so gut tragen, ohne dabei bleich zu wirken. Gut, die Hose, die ist eigentlich zu düster. Die gehört zu einer anderen Typ-Palette, aber es passt ja trotzdem irgendwie.
Begleiter: Sie sind ja aber auch ganz düster angezogen!
Schaffner: Aber das ist doch meine Uniform, ich habe doch gar keine Wahl! Ich wäre ja eigentlich auch ein Frühlingstyp, aber in meinem Job kann man halt nicht tragen, was man will... Privat kann ich da schon mehr darauf achten, aber bei der Arbeit muss ich mich unterordnen, leider.
ich, Begleiter: (mitleidiges Nicken, allgemeine Sprachlosigkeit)
Schaffner: Wir haben ja einen Chinesen im Team, der ist sowas von geschult auf Gesichter, der erkennt sogar Brüder!
ich: Ja aber ist das denn wichtig um zu wissen, wen man schon kontrolliert hat? Ich verstehe den Zusammenhang jetzt nicht so richtig, wenn ich ehrlich bin.
Schaffner: Aber sicher ist das wichtig! Wie wollen Sie sonst herausfinden, ob es sein Abo ist, mit dem er fährt? Was meinen sie, wie oft fährt der jüngere Bruder mit dem Abo des Grösseren und meint, wir merken es nicht!?!
ich: AHA! Sie reden vom Schwarzfahren, jetzt kann ich folgen. (Endlich)
Schaffner: Ja aber sicher! Da muss man eine Auge haben dafür! Wir Europäer können die Asiaten ja kaum unterscheiden, für uns sehen ja alle gleich aus. Klar haben die einen etwas rundere (formt mit den Händen einen Kreis und sucht nach einem Wort)...
Begleiter: Köpfe?
Schaffner: Nein, Augen! Die einen haben ja eher rundere Augen und die anderen eher Schlitze, aber eigentlich sind die doch alle sehr ähnlich für uns. Aber der Chinese bei mir im Team, dem macht keiner was vor, das kann ich ihnen sagen! Also ich hatte ja auch eine Beziehung zu einer Chinesin, 8 Monate lang, jetzt sind wir getrennt, hat dann doch nicht gepasst. Aber ich habe viel gelernt! Ich kann inzwischen auch gut unterscheiden zwischen Japanern, Chinesen und anderen Asiaten! Aber ich sage ihnen: sobald ein Chinese längere Zeit in Thailand lebt, können sie den nicht mehr von den Thais unterscheiden, ehrlich! Die gleichen sich an, unglaublich. Und dann kommt ja noch was anderes dazu: Sie entwickeln mit den Jahren ja auch Intuition, wissen sie. Also ich mache den Job ja schon ewig und ich kann ihnen sagen, ich weiss schon früh am morgen, noch bevor ich den Zug übernehme, ob es Ärger geben wird mit dem Zug, oder nicht. Noch bevor ich den Zug betrete, weiss ich haargenau, ob ich es mit Schwarzfahrern zu tun haben werde, oder nicht. Es gibt sogar Nächte, da schlafe ich nicht und dann ist es vollkommen klar, dass ein schwieriger Zug auf mich zukommt, am nächsten Morgen.
ich: Aber dann wäre es doch das beste, gar nicht erst hinzugehen, zur Arbeit, nicht?
Schaffner: Ja sie! Wo denken Sie hin! Das geht doch nicht. Ich kann nicht einfach Zuhause bleiben, nur weil ich weiss, dass ich einen schwierigen Zug übernehmen muss! Das geht in unserem Job nicht, da muss man antraben, egal was auf einen zukommt! Aber sagen Sie jetzt mal ehrlich: (zum Begleiter gewandt) gell, sie haben Zuhause einen gelben Pullover!
Begleiter: Gelb, mhmm, nein.
ich: Na ja, also keinen knallgelben. Aber einen senfgelben hast du schon.
Schaffner: Sehen sie, habe ich es doch gewusst! Er ist ein Frühlingstyp! Sonst hätte er nie und nimmer einen gelben Pullover im Schrank! Das ist der Beweis!
ich: Aha, ja, ok. Aber sagen Sie mal: lernen Sie das eigentlich alles bei der SBB?
Schaffner: Aber nein, wo denken Sie hin! Ich bilde mich weiter, auch neben dem Job. So, jetzt muss ich aber weiter, ich habe auch noch andere Fahrgäste, die ich kontrollieren muss. Adieu mitenand, gueti Fahrt no!
ich, Begleiter: Danke gleichfalls.
Lieber Bruno. Fragen Sie Ihren Vorgesetzten doch einfach bei der nächsten Kaffeepause, ob er Zuhause einen gelben Pullover besitzt und philosophieren Sie etwas über seine Augenfarbe. Und wenn er sich über Ihre Verhalten wundert, dann erzählen Sie ihm, dass Sie mit dem Gedanken spielen, einen Farb-Typ-Beratungskurs zu besuchen, der ja dem ganzen Team zugute käme. Ich vermute, dass das Thema Weiterbildung damit für die nächsten Jahre gegessen sein sollte.
Alles Gute und herzlichen Gruss. Ihre Kafi.