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Guten Tag Frau Freitag. Ich habe mich vor Kurzem mit einer Transfrau unterhalten. Dabei ist mir aufgefallen, dass ihr Lebenslauf mit dem von mir zu fast 100% identisch ist. Das bezieht sich nicht auf die Schulbildung oder die Berufslehre oder sonstiges, sondern auf die Erlebnisse und Verhaltensmuster in der Kindheit wie auch die inneren Wünsche. Nun stellte sich mir die Frage, ob es möglich wäre, dass ich auch zur Transsexualität tendiere. Ich habe selber schon einige Verhaltensmuster festgestellt welche mich von anderen unterscheiden. Zudem fühle ich mich der männlichen Gesellschaft nicht zugehörig. Freundliche Grüsse. Marvin, 19

Lieber Marvin

Die Zeit der Pubertät und Jugend ist eine der Experimente und des Suchens. Da gehören solche Unsicherheiten dazu, das ist vollkommen normal. Wenn jeder, der sich in dieser Zeit nicht klar der männlichen Gesellschaft zugehörig fühlt, schlussendlich transsexuell wäre, dann wären heute vermutlich zwei Drittel aller Männer als Transsexuelle unterwegs. Und zwei Drittel der Frauen, die sich in der Pubertät mit den Rollen der Frau schwertun auch.

Der Prozess der Ich-Findung war noch nie ein simpler, aber ich denke, er wird zusehends anspruchsvoller. Je länger je mehr vermischen sich Rollenbilder und das heteronormative Weltbild weicht sich immer mehr auf. Wo man sich früher blindlings in zugewiesene soziale Geschlechterrollen fügte, will man sich heute nicht mehr solchen Bildern unterwerfen, sondern auch mal querbeet durch die Geschlechtsmerkmale wälzen. Männliche Models werden heute als Frauen gebucht, Frauen mit männlichen Gesichtszügen als Männer in der Werbung eingesetzt. Androgynität gehört heute zum guten Geschmack, wie wenigstens eine homosexuelle Erfahrung in die eigene Biografie gehört.

Als junger Mensch in Ihrem Alter ist man neugierig auf alles, was anders daherkommt als alles Gewöhnliche, was man sonst so kennt. Man will alles ausprobieren und herausfinden, was zu einem selber passt. Das ist richtig so und gehört zum Erwachsen werden dazu. Sich von einem Lebenslauf, der dem eigenen sehr ähnlich sieht in eine bestimmte Richtung lenken zu lassen, wäre aber falsch. Der Mensch ist nun mal darauf programmiert, Ähnlichkeiten und angeblich Bekanntes zu erkennen, selbst da wo eigentlich nichts Bekanntes ist. Dieser Tatsache liegt die Fähigkeit zugrunde, in Wolkenformationen oder Holzmaserungen Gesichter zu sehen, wo in Tat und Wahrheit keine sind.

Springen Sie nicht vorschnell in eine offene Schublade, lieber Marvin. Lassen Sie sich Zeit und spüren Sie einfach mal nach, was sich für Sierichtig anfühlt und was nicht. Es gibt mindestens 50 Schattierungen von Grau zwischen Schwarz und Weiss. Welche nun Ihre Persönliche ist, werden Sie mit den Jahren herausfinden. Bis dahin sollten Sie sich nicht mit der Etikettierung Ihres Seins beschäftigen.

Mit herzlichem Gruss. Ihre Kafi.

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