Hallo Frau Freitag. Ihre Antwort zur Frage ob man guten Freunden wirklich alles sagen kann war sehr interessant! Dazu habe ich jetzt auch eine Frage. Was macht man mit Leuten, die immer alles besser wissen und die mir dann immer Schonungs los sagen, wie ich was machen soll? Ich bin nicht gegen gute Tips aber es nervt mich schon, wenn die dann von jemandem kommen, der es selber nicht besser macht. Bin ich vielleicht nicht genug kritik fähig? Saskia, 25
Liebe Saskia
Sie haben mich ertappt.
Meine Antwort zu der von Ihnen erwähnten Frage war natürlich alles andere als komplett. Aber der Text war schon recht lang und ich wollte endlich zum Apéro und überhaupt! Die Tatsache, dass ich in den letzten Tagen noch zwei weitere Fragen erhalten habe, die ebenfalls in die erwähnte Richtung gehen, zeigt mir aber, dass ich diesen Bereich der Frage auch noch etwas ausleuchten muss. Ich werde mir erlauben, Ihre Frage stellvertretend für alle drei zu beantworten; ich hoffe das ist ok für die beiden anderen Fragesteller.
Meine Antwort hat vielleicht den Anschein erweckt, man müsse dankbar dafür sein, in seinem Umfeld Menschen zu haben, die einem ehrlich die Meinung sagen. Aber dem ist natürlich nicht so. Schliesslich hat jeder von uns eine oder sogar mehrere Personen in seinem Dunstkreis, die unentwegt nichts anderes tun, als einem ehrlich die Meinung zu sagen.
Auffällig oft sind dies Menschen, welche eigentlich über genügend eigene Themen verfügen, die der Optimierung bedürften. Und ebenso augenfällig ist die Tatsache, dass man diese Einschätzung besser nicht laut ausspricht.
Es kann gut sein, dass es sich dabei um eine Ablenkungsstrategie von eigenen Problemen handelt. Dies wäre nur menschlich und in meinen Augen verzeihbar. Schlimmer aber ist, wenn die Rat-Schleuder sich nicht dessen bewusst ist, dass sie eigentlich im Glashaus sitzt und das Werfen mit Steinen wenig sinnvoll ist.
Und das soll nun überhaupt nicht heissen, dass ein Rat nur dann wertvoll ist, wenn er von einer Person kommt, die alles im Griff hat, weit gefehlt. Schliesslich ist es für einen Aussenstehenden oft soviel einfacher, den Lichtschalter zu erkennen, den man selber in den dunklen Katakomben seines Problems nicht mehr finden kann. Dies ist der Grund, warum selbst der lausigste Ehemann einen guten Paartherapeuten abgeben kann.
Wichtig ist nur, dass der Ratgeber selbst eine gewisse Kompetenz in Bezug auf seine eigenen Baustellen besitzt. Meine Freundin kann mich aufgelöst anrufen und mir von einem groben Erziehungsfehler erzählen und mich im selben Telefongespräch auf eine Entgleisung meinerseits hinweisen. Das funktioniert aber nur, solange ich weiss, dass sie sich bewusst ist, dass ihr eigenes Verhalten auch nicht unfehlbar ist. Damit bleibt sie für mich eine glaubwürdige Beraterin, deren Kritik ich gerne annehme.
Viele selbsternannte Ratgeber bevorzugen es, andere zu kritisieren, als sich selber zu reflektieren. Dass man sich aber auch selber einmal genauer im Spiegel betrachten könnte, anstatt ihn immerfort anderen vorzuhalten, kommt ihnen leider nicht in den Sinn. Eine aufrichtige Kritikkultur findet jedoch nur dann statt, wenn man auch bereit ist, Kritik zu empfangen und nicht nur darauf pocht, sie zu platzieren.
Eigentlich hätte ich Ihre Antwort auch kurz und bündig mit einem einfachen "nein, liebe Saskia, das hat mit mangelnder Kritikfähigkeit nichts zu tun" beantworten können. Aber heute ist keinerlei Apero in Aussicht und auch sonst wenig anderes, weil mir ungeputzte Fenster die Aussicht verwehren. Und so habe ich dann doch lieber etwas umständlich ausgeholt für meine Antwort, als zum Ajax zu greifen und mich körperlich zu verausgaben.
Lieben Gruss! Ihre Kafi