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Ich bin eine etwas verwirrte, 28 Jährige Frau mit einer Krise. Es macht den Anschein, als habe ich mich verloren und ich suche und suche nach mir, aber ich kann mich nicht mehr finden. Ich überdenke all meine Prinzipen, versuche mich ständig neu zu finden und das geht so schnell, dass ich ein Schleudertrauma von mir selber bekomme. Ich möchte endlich sesshaft werden und wissen, wer ich bin, was ich mag und was ich nicht mag. Ich mag nicht mehr stark Extrovertiert UND stark Introvertiert sein. Eva, 28

Liebe Eva

Was Sie mir da beschreiben, ist der ganz normale Wahnsinn, der das Leben mit sich bringt. Heute ist einer dieser Tage, an denen mir die Perversion des Daseins wieder einmal ganz hart bewusst wird. Es passieren unglaubliche Dinge auf dieser Welt und in dieser Sekunde wird eine Mutter von 5 Kindern vom Zug überfahren und in meinen englischen Texten soll angeblich eine falsche Formulierung sein und Trump merkt auf einmal, dass das Präsident sein doch nicht so lustig ist, wie er anfangs gedacht hat. 

Kein Wunder, dass Sie und ich da ab und an ein internales Schleudertrauma haben, liebe Eva. Auch ich möchte sesshaft werden und endlich wissen, wer ich bin. Aber wer weiss das schon? Und was bringt es zu wissen, wer wir heute sind, wenn morgen schon wieder alles anders ist? Ich verstehe Ihren Wunsch nach Stabilität und Sicherheit. Nach festen Strukturen und Grenzen, an denen man sich festhalten kann. Aber gleichzeitig muss ich Ihnen leider sagen, dass diese auch nur eine Illusion sind und in letzter Konsequenz nicht den Halt bieten, den Sie sich wünschen. 

Warum leiden Sie darunter, dass Sie gleichzeitig introvertiert und extrovertiert sind? Warum erfreuen Sie sich nicht an der Dualität, die dadurch möglich wird? Weil Sie deswegen in keine gängige Schublade passen? Viele Menschen können nicht mit Widersprüchlichkeit umgehen und wollen ganz genau wissen, wohin man jemanden "anetue" muss. Man will wissen, woran man ist und mit wem man es zu tun hat. Aber auch das ist nur ein weiterer verzweifelter Versuch, mit der eigenen Unsicherheit umzugehen, indem man eine angebliche Ordnung schafft. Viele Menschen haben den starken Drang, andere zu bewerten und sie in ein Schema zu pressen. Ich erlebe das fast täglich und habe gelernt, damit umzugehen. Es gibt Personen, die lesen meine Antworten seit 6 Jahren und können mich immer noch nicht einordnen, weil sie die Bandbreite meines Seins und meiner Arbeit nicht erfassen können. Habe ich 2 Fragen aufeinanderfolgend ironisch beantwortet, stecken sie mich in die Schublade Satire und können es dann nicht fassen, wenn ich mich unglaublich feinfühlig und vielschichtig zum Thema Abtreibung äussere. Diese scheinbar ruhelose Beweglichkeit überfordert die meisten meiner Leser und fasziniert sie gleichzeitig. Viele versuchen mich dann mit Kommentaren in die Ecke zu treiben, in der sie mich haben wollen und in der ich für sie fassbar werde. Aber ich lasse mich nirgendwo hintreiben und ich lasse mir nicht den Spagat verbieten. 

Und das rate ich auch Ihnen, liebe Eva. Warum wollen Sie sich ums Verrecken selber kastrieren, damit sie einem Genre gerecht werden? Warum ist es so wichtig ganz genau zu wissen, was man nun mag und was nicht? Darf es nicht auch möglich sein, heute das eine zu mögen und morgen genau das andere? Hat es nicht auch mit Wachstum zu tun, wenn man sich verändern darf und neue Meinungen bilden? 

Mir ist klar, dass es unfassbar anstrengend sein kann, in der Zerrissenheit der Gegensätzlichkeit zu leben. Aber wenn man diese Widersprüche in sich trägt, kostet es nur noch mehr Energie, gegen diese anzukämpfen. Stattdessen geht es viel mehr darum, sich in der Polarität des Seins zu akzeptieren und die Vorzüge dieser Tatsache zu erkennen und zu leben. Es geht darum zu lernen, sich auszuhalten. Dieser Blog wäre nach über 6 Jahren nicht mehr halb so erfolgreich, wenn ich nicht auch in einem Dualismus zu Hause wäre und ich wäre als Coach nicht halb so erfolgreich, wenn ich immer genau das liefern würde, was meine Klienten erwarten. 

Mag sein, dass man sich in der Komfortzone der eigenen Aufgeräumtheit wunderbar ausruhen kann. Aber wachsen und entwickeln tun wir uns dort, wo wir von uns selber überrascht und überfordert werden. Hören Sie auf, sich selber erfassen und festlegen zu wollen. Und geniessen Sie stattdessen die unglaublichen Weiten Ihres eigenen Seins. Vielleicht kommen Sie im nächsten Leben als langweiliger Wurm zur Welt. Aber in diesem geht es darum, sich selber zu erweitern und sich dabei auszuhalten.

Ganz herzlich. Ihre Kafi

 

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