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Liebe Frau Freitag. Aus aktuellem Anlass - und wohl (passenderweise) etwas plakativ formuliert - frage ich Sie: Sollen dumme Menschen wirklich abstimmen dürfen? Darf man sich zu einem Thema äussern von dem man keine Ahnung hat? Einen Entscheid treffen, dessen Grundlagen man nicht versteht? Ist es der Allgemeinheit dienlich, wenn ich - die nicht zwischen brutto und netto unterscheiden kann - über die Steuerpolitik des Landes mitentscheide? Oder mein Nachbar - der nicht weiss, dass Milch nicht mit Schokogeschmack aus der Kuh kommt - über Landwirtschaftsverordnungen? Warum? Liebe Grüsse. Lena. 23

Liebe Lena

Da motzt man immer über die Jugend, die sich angeblich nicht für Politik interessiert und dann das! Grossartige Frage, danke! Die Antwort wird mich vermutlich in Teufels Küche bringen, aber dort ist es wenigstens warm und zu essen hat's auch immer genug. Also dann.

Es ist nicht Neues, wenn ich hier mal wieder sage, dass ich kein Fan der direkten Demokratie bin. Diese Meinung ist in der Schweiz wenig populär, aber ich vertrete sie dennoch. Genau aus den von Ihnen formulierten Gründen. Wenn man sich über ein Abstimmungsthema umfassend informieren will, dann ist das praktisch ein Fulltime-Job. Und verlangt sehrgrosses Interesse und eine gewisse Intelligenz. Ich habe eine Zeit langregelmässig am Abstimmungspodium der Perspektive teilgenommen und darum jeweils versucht, mich seriös ins Thema einzuarbeiten. Und gemerkt, dass es extrem anspruchsvoll und wirklich sehr zeitaufwendig ist. Man liest dann Meinungen hier und Propaganda da und bildet sich daraus und aus eigenen Wertvorstellungen eine Meinung. Oder aber man macht es sich einfach und informiert sich auf der äusserst wertvollen Internetseite votez.ch. Dort werden Informationen sehr kompakt aufbereitet, ein wirklich hervorragender Service, wie ich finde.

Nun ist es aber so, dass man ja oft über Finanzierungen abstimmt. EineUmfahrungsstrasse dort, ein Kongresshaus hier. Und immer fühlt man das eigene Portemonnaie im Hosensack bluten und diese geforderte Strasse ist doch dort hinten, ein ganzes Stück weg von mir und ich fahre da eh nie durch und was interessiert es mich, dass man die Anwohner entlasten sollte und der Lärm unerträglich ist, schliesslich wohne ich an einerSpielstrasse und überhaupt. Nein. Und im Kongresshaus war ich kürzlich, der Abend war mässig lustig und die Drinks teuer und Alkohol war kaum drin und überhaupt, das letzte Mal war ich vor 5 Jahren da drin. Nein.

Sie sehen selber, wo es hinausläuft. Die direkte Demokratie wird hochgelobt und als das Erfolgsmodell angepriesen. Weltweit. Immer. Wir. Sind. Die. Besten. Und. Schlausten. Und. Überhaupt. WIR!

Dass dieses System vieles verhindert, weil Menschen über Dinge abstimmen können, von denen sie nicht direkt betroffen sind, kapieren die wenigsten. Unsere Meinung ist wichtig. Ich bin wichtig. Das ist schön. Weil ich bin gerne wichtig. Dennoch bin ich oft überfordert, wenn ich für oder gegen etwas abstimmen soll. Da wäre es mir oft lieber ich hätte, wie im deutschen System eine von mir gewählte Regierung, die das für mich regelt. Natürlich würde die nicht immer in meinem Sinne wählen. Aber wenigstens wüssten sie, um was es wirklich geht. Denn was weiss ich schon?

Werden Kinder mit Behinderung demnächst aus unserem Alltag verschwinden, wenn ich Ja zur Fortpflanzungsmedizin sage? Werden Eltern, welche Tests verweigern und ein Kind mit Behinderung zur Welt bringen irgendwann keine Versicherungsleistungen mehr erhalten mit der Begründung "das hätte sich vermeiden lassen!"? Oder schikaniere ich mit einem NEIN nur Eltern, die sich eh schon in einem unglaublichen Prozedere befinden, weil es auf dem natürlichen Weg nicht klappen will? Will ich wirklich 100,7 Millionen Franken lockermachen für eine Wohnsiedlung, in der ich vermutlich niemals wohnen werde?

Ich weiss es ehrlich nicht. Und ich zähle mich selbstbewusst zu den überdurchschnittlich intelligenten Menschen. Vielleicht fällt es einem leichter, wenn man weniger intelligent ist? Wenn man diese Themen bei einem Bier am Stammtisch regeln kann und einer Gesellschaft angehört, die Neuem schon mal von vornherein skeptisch gegenübersteht? Wenn man Parolen ungefiltert nachplappert und ohne eigene Reflexion der Meinung der Partei folgt?

Und dann stellt sich noch die Frage nach der Wahlbeteiligung. Die ist seit Jahren erschreckend tief. Am Beispiel der unsäglichen Minarett-Initiative sieht das folgendermassen aus:

 

57.5 % bei einer Wahlbeteiligung von 53.4 % haben für das Verbot von Minaretten gestimmt. Diese 57.5 % ergeben 31 % der wahlberechtigten Bevölkerung. Das heisst, ca. 1/3 bestimmt über 2/3 der wahlberechtigten Bevölkerung. In der angeblich besten Demokratie der Welt gehen in der Regel zwischen 50% bis sogar 70 % der Wahlberechtigten nicht zur Wahl, ihnen ist es wohl völlig gleichgültig, was in der Schweiz politisch passiert.Doch wer sind die anderen, die an die Urne gehen? Sind das fortschrittlich denkende Menschen, welche auch noch die Interessen kommender Generationen im Auge haben oder Menschen, die gedanklich noch in der vorletzten hängen geblieben sind? Sind dies Menschen, die aus einem Vertrauen in sich und das Leben ihr Kreuz setzen oder Menschen, die von Angst geplagt um ihre Existenz fürchten? Sind dies Menschen, die um die Geschichte Europas wissen oder solche, die von den Weltkriegen noch nicht mal im Geschichtsunterricht gehört haben? WER sind diese Menschen und WELCHE Interessen vertreten sie? Welche Partei kann ihre Wähler am besten mobilisieren und mit welchen Mitteln? Nicht selten wird mit der Angst gearbeitet, denn die berührt die Menschen tief. Aber ist Angst ein guter Ratgeber, wenn es um das Fällen von Entscheidungen geht? Ich glaube nein. 

 

 

All diese Fragen muss ich mir natürlich auch stellen, wenn ich von mir gewählte Profis diese Entscheidungen fällen lasse. Aber diese sind dann wenigstens dossiersicher und fällen die Entscheidung nicht am Stammtisch.

 

 

 Ganz herzlich, Ihre Kafi.

 

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