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Liebe Frau Freitag. Darf man vom Salat etwa die Hälfte wegschmeissen, weil einem die äusseren Blätter zu wenig vital erscheinen? Mein Mann findet es jenseits, ich nicht so schlimm. Wie denken Sie darüber? Sandra, 32

Liebe Sandra

Eine "darf man Frage¨" Oh wie wunderbar. Sie können sich ja gar nicht vorstellen, wie mein Herz triumphiert, wenn ich eine solche gestellt bekomme. Ich fühle mich dann immer bitz wie der gute alte Freiherr Adolph Franz Friedrich Ludwig Knigge, der sich all diesen "darf man's" der Welt gestellt und klar und deutlich gemacht hat, was man eben darf und was nicht. Wer mich kennt weiss, dass ich Vereinfachungen mag, weil diese Welt eh schon viel zu kompliziert ist. Und da wäre ein umfangreiches Regelwerk, wo man genau solche Dinge nachschlagen kann, eine grossartige Sache, nicht? Ach was wären das viele Fragen... Und ich wüsste natürlich auf jede eine Antwort!

Darf man einer Frau, die der neuen Partnerin des Ex-Freunds ähnlich sieht am Fussgängerstreifen das Vortrittsrecht verweigern, wenn die Beziehung an einem Seitensprung mit ebendieser gescheitert ist? Darf man dem halbwüchsigen Kind den Handygebrauch einschränken und selber das Gerät 24 Stunden am Tag in der Hand halten? 

 

Sie sehen selber, meiner Phantasie sind da wirklich keine Grenzen gesetzt und ich finde, dass der Knigge es sich wirklich ein bisschen einfach gemacht hat, in dem er ein paar Regeln für den sozialen Umgang und Höflichkeit verfasst hat, obige Fragen aber vollkommen links liegen liess. Schliesslich plagen uns heute sehr viele Fragen, die über den korrekten Gebrauch des Tischbestecks hinausgehen und die eigentlich einen Ethiker erfordern und darum fände ich es eine super Sache, wenn jedem Haushalt ein Ethiker zustehen würde. Ein Hausethiker sozusagen. Nur leider ist die Dichte dieser Spezies eher rar und darum müssen wir wohl oder übel auf den Hausverstand verlassen, der aber leider auch nicht in jedem Hause anzutreffen ist, aber das ist eine andere Thematik. 

Um nun zu Ihrer Frage zurückzukommen, liebe Sandra. Schliesslich wollten Sie ja lediglich wissen, ob es ok ist, die äusseren Salatblätter so weit zu entfernen, dass der Abfallhaufen gleich hoch ist, wie der Berg an Blättern, der Ihren strengen Anforderungen in Sachen Vitalität gerecht wird. 

Ich würde Ihnen ja gern ein klares Ja oder Nein zur Antwort geben, aber es ist halt einfach einmal mehr, nicht ganz so einfach. Ich kann diese Frage beim besten Willen nicht losgelöst vom Kontext beantworten. Und der ist riesig, wie Sie sich denken können. 

Im Vergleich zu den 2 Millionen Tonnen Nahrungsmittel, die jährlich entsorgt werden, ist ein halber Salatkopf natürlich nichts. Und ich könnte mir gut vorstellen, dass Sie sich selber sagen, dass es den anderen ja egal sein kann, ob sie den Salat nun essen, oder entsorgen. Und ja, das sehe ich auch so. Es kann nicht angehen, dass man sich gegenseitig reinredet, wie man mit den Ressourcen dieser Welt umzugehen hat. Gleichzeitig finde ich es sehr wichtig, dass man sich mit der Thematik der Verschwendung auseinandersetzt. Und zwar generell, nicht nur im Bezug auf Ihre Salatblätter. 

Kürzlich ist mir in einem Lebensmittelgeschäft ein auf den ersten Blick recht lustiges Angebot aufgefallen. Rüebli, die nicht der Norm entsprachen, wurden dort nämlich als etwas ganz Spezielles angepriesen und hübsch verpackt verkauft. Es war ein wirklich niedliches Bild, wie diese zwei oder gar dreibeinigen Rüebli neckisch aus der Verpackung lugten und ich musste sofort Karotten kaufen, obwohl die nicht auf meiner Einkaufsliste standen. Zuhause beim Rüeblisalat dachte ich die Sache dann weiter: Was bedeutet es eigentlich, wenn ein Lebensmittelhändler auf die Idee kommt, Gemüse in abnormer Form als etwas spezielles zu verkaufen? Und wer sagt eigentlich, wie ein normales Rüebli auszusehen hat? Mir liess die Sache keine Ruh, weil ich ganz genau weiss, dass solche Trends viel mehr über unsere soziale Welt aussagen, als uns lieb ist. Darum forschte ich etwas nach und erfuhr auf der WWF Website, dass etwa 13% der Schweizer Früchte und Gemüse auf dem Feld liegen gelassen werden, weil sie zu klein, zu gross oder unförmig sind. In meinen Salat hatte es also ein Gemüse geschafft, das sonst eigentlich links liegen gelassen wurde. Mich persönlich berührt das an einem komischen Punkt, weil es mir aufzeigt, wie wir Menschen eigentlich über Normen denken. 

Sie können mir jetzt unterstellen, dass ich viel zu weit von der Frage wegsegle, aber ich mag nun mal gern etwas weiter denken, als ich eigentlich müsste. Die Frage nach der Norm und unserem Umgang damit, ist eine, welche mich eh sehr beschäftigt. Je länger je mehr wird der Druck in unserer Welt nämlich grösser, gefälligst in ein Schema zu passen. Bereits Kleinkindern werden Ohren und Zähne in die richtige Form gezwängt und wer nicht stillsitzen kann, wird ruhiggestellt. 

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