Liebe Frau Freitag, ich habe jahrelang ein Essstörung praktiziert, mit ihr gekämpft und vom Umgang mit ihr gelernt. Nun habe ich nur noch Überbleibsel davon, die aber vielleicht schon ziemlich abartig erscheinen. Therapie habe ich schon stationär gemacht und mache immer noch ambulant - ich bin es leid immer wieder dieselben Lösungsansätze zu hören (z.B. nehmen sie doch mal ein Kaugummi ODER essen sie langsam und entspannt. Wenn ich das könnte, hätte ich kein Problem! ODER die Lösung liegt in Ihnen). Ich wiederkäue bewusst. Ich empfinde das als beruhigend und merke häufig erst wenn ich wiederkäue, ob ich satt oder hungrig bin, kann so auch ein Essen unterbrechen. Allerdings ist es auf keinen Fall eine Gewohnheit die ich beibehalten will, da ich die Vorstellung davon eklig finde, ich dauergeschwollene Lymphdrüsen habe, meine Zähne leiden, Mundgeruch, usw. Ich habe bis jetzt noch nie jemanden kennen gelernt der/die dasselbe tut (trotz Foren-Durchstöberung und Suchinseraten), habe aber schon gehört, dass es das auch sonst geben sollte. Wo und wie kann ich nach LeidensgenossenInnen suchen, so das ich anonym bleibe? (schäme mich sehr dafür). Haben Sie mir einen Lösungsansatz für mein Problem, eine Idee, ein Tipp, wie ich in diesem Moment nach dem Essen die Kontrolle behalten kann? (Falls Sie das Ganze nicht verstehen, sind wir schon zwei.) Saskia, 21
Liebe Saskia
Zuerst einmal möchte ich Ihnen von Herzen gratulieren, dass Sie diese schwere und hartnäckige Krankheit in den Griff bekommen haben. Sie scheinen eine sehr willensstarke Person zu sein und Ihre Formulierung "eine Essstörung praktiziert" deutet auf sehr viel Selbstverantwortung hin, was mir sehr imponiert.
Ich habe auch kurz Google konsultiert um den Thema Wiederkäuen auf die Schliche zu kommen, weil Sie mit Ihrer Vermutung natürlich richtig liegen; ich verstehe nichts davon. Aber bis auf die Erklärungen, die sich auf Paarhufer beziehen, habe auch ich nichts finden können. Vermutlich wissen die Fachpersonen in der Klinik, in der Sie behandelt wurden auch nichts, sonst hätten Sie das Problem vielleicht gar nicht mehr.
Aber eigentlich ist es auch gar nicht so wichtig, dass ich weiss, wovon Sie reden, es reicht vollkommen, wenn Sie es wissen. Wie Sie vielleicht gelesen haben, coache ich Menschen mit NLP und Hypnose und ich arbeite mit dem Ansatz, dass man zuerst herausfinden muss, was eine "schlechte" Angewohnheit als positiven Nebennutzen hat. Wenn wir zum Beispiel das Rauchen nehmen, dann ist den meisten klar, dass es ungesund und teuer und was weiss ich noch alles, ist. Aber viele tun es trotzdem und das Wissen um die negativen Nebenwirkungen reichen nicht, um damit aufzuhören. Darum versuche ich zusammen mit meinem Kunden dahinter zu kommen, WAS es ihm genau bringt, das Rauchen. Beim einen kann es sein, dass es ihn entspannt. Den andern regt es an oder es hilft ihm dabei, sich unter Menschen sicherer zu fühlen. Wenn man diesen "Vorteil" erst einmal erkannt hat, dann kann man nach neuen und adäquateren Lösungen suchen, die den gleichen Effekt haben. Verstehen Sie was ich meine? Bei Ihnen ist es Entspannung und diese liesse sich bestimmt auch auf anderem Wege erreichen.
Oftmals reicht es auch aus, wenn man der schlechten Marotte mal etwas Platz einräumt, damit Sie sich austoben kann. Sicher ärgern Sie sich fürchterlich darüber, wenn Sie merken, dass es "jetzt sein muss" und versuchen dann, das Wiederkäuen zu unterdrücken. Aber grundsätzlich gewinnt alles Unterdrückte an Gewicht und Grösse. Darum lohnt es sich manchmal, das Pferd mal von der anderen Seite aufzuzäumen und der Schwäche etwas Raum zu geben. Ich habe meine besser im Griff, seit ich sie akzeptiere, statt mich über sie zu ärgern, vielleicht ist das bei Ihnen nicht anders. Versuchen Sie es mal.
Wo Sie Leidensgenossinnen finden, kann ich Ihnen leider auch nicht sagen. Und ich weiss auch nicht, ob diese Ihnen helfen könnten. Schlechte Angewohnheiten sind so individuell wie deren Besitzer, so dass es meist kein Patentrezept gibt, welches für alle anwendbar ist.
Falls mein Rat nichts bringen sollte, so würde ich Sie gerne darin unterstützen, die lästige Angewohnheit wegzubekommen. Weil den grössten Teil der Herausforderung, nämlich die Essstörung, haben Sie ja bereits besiegt. Da wäre es doch gelacht, wenn man dieses "Mödeli" nicht auch in den Griff bekäme! Bitte melden Sie sich bei mir, falls Sie einmal zu einem persönlichen Gespräch vorbeikommen möchten.
Und liebe Saskia, bitte hören Sie damit auf, sich zu schämen. Sie haben erreicht, was vielen anderen, von dieser Krankheit betroffenen Menschen, ein Leben lang nicht gelingt. Sie dürfen sehr sehr stolz auf sich sein, wirklich!
Alles alles Liebe! Ihre Kafi.