Liebe Frau Freitag. Mein Sohn (7) ist künstlerisch unheimlich produktiv. Er zeichnet sehr gerne und dynamisch und produziert täglich Bilder, eigentlich mehr Storyboards, oder bastelt irgendwelche genialen Erfindungen, die er mir dann überreicht. Um der Flut Herr (oder Dame?) zu werden, bin ich gezwungen zu kuratieren, auszuwählen, was ins Archiv kommt und was in die Papiersammlung. Diese Entscheidung fällt mir unheimlich schwer. Welche Kriterien soll ich anwenden? Michèle Binswanger, 39
Liebe Michèle
Ich bin Dir dankbar, dass Du mich mit dieser Frage einen Moment lang vom Kinderzimmer ausmisten meines eigenen Sohnes (ebenfalls 7 Jahre alt) ablenkst und nein, das ist kein Witz. Ich mache im Moment tatsächlich genau dies. Die Alternative wäre eine Buchzusammenfassung für meine Masterarbeit schreiben und da kam mir das Kinderzimmer dann noch sehr gelegen.
Nun, es ist eine wirklich schwierige Frage, die Du mir da stellst. Ich kenne tatsächlich auch keine politisch korrekte, sozialveträgliche Antwort darauf. Aber da bei mir auch nicht immer alles politisch korrekt sein muss, habe ich mit einem 60 Liter Abfallsack ins Verderben gestürzt und mit geschlossenen Augen entsorgt. Es ist furchtbar, weil mein Sohn wirklich auch sehr viele, sehr schöne Bilder malt. Aber bis genügend Museen für kindliche Kunst gebaut sind, sehe ich keine andere Lösung.
Obwohl - doch! Wir hatten da mal die geniale Idee vom Fotografieren, Archivieren und anschliessenden klammheimlichen Entsorgen der Bilder und Objekte. Das haben wir dann genau drei Tage lang umgesetzt, wie es so mancher genialen Idee ergeht. Aber ich bin ja immer für die Flucht nach vorn und so habe ich bei meinem Konzeptguru Stili einen Stapel der wunderschönen und für Kinderzeichnungen fast zu edlen Stilgraf-Hefte bestellt. Weil ich glaube, dass diese bei mir Unmensch die besseren Überlebenschancen haben, als lose Kinderzeichnungen, die einem um die Ohren fliegen. Ich habe davon noch ein paar im Haus, ich kann Deinem künstlerisch unheimlich produktiven Sohn gerne feierlich ein paar übergeben. Schliesslich wäre es doch zu schön, wenn ich in knapp 20 Jahren, wenn er gross und berühmt ist sagen könnte: "Dem habe ich als kleiner Knopf ein paar Hefte zum Zeichnen geschenkt, ich glaube insgeheim bin ich ja Schuld an seinem Erfolg".
P.s. Du kannst natürlich auch Deinen Sohn auf die Strasse zum Verkaufen schicken. Bei mir hat auch das leider nicht gefruchtet, im Kreis 4 scheint die Nachfrage nach Kinderzeichnungen irgendwie nicht so vorhanden zu sein.
Ganz herzlich und mitfühlend, Kafi.