Liebe Kafi. In der Blüte meiner Jugend habe ich die Diagnose von Multiple Sklerose bekommen. Dies hat mir damals logischerweise ziemlich den Boden unter den Füssen weggezogen. Heute, 10 Jahre später, geht es mir gesundheitlich so gut wie jedem anderen auch. Ich darf mich glücklich schätzen, dass ich bis jetzt so gut wie verschont worden bin. Damals bin ich auch von der Stadt in die Bergen gezogen und bin hier eigentlich als ziemliche Powerfrau bekannt. Ich arbeite Teilzeit, bin Mutter, unterrichte 3 Mal die Woche Yoga und habe ein kleines Mini-Business am laufen. Ohne bewusst eine Entscheidung getroffen zu haben, habe ich rückblickend ein ziemliches Geheimnis aus dieser MS Sache gemacht. Zum einen hatte ich ganz einfach nicht das Bedürfnis mit Fritz und Franz darüber zu sprechen, gleichzeitig wollte ich nicht in dieses kranke Bild gerückt werden. Wie schon gesagt - ich wohne wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Nun ist mir wie aus dem Nichts der Gedanke gekommen, dass dies ja evt. auch sehr doof ist, diese Geheimnistuerei. Vielleicht gibt es irgendjemand, dem meine Geschichte auch Mut machen könnte? Das Wissen, dass es auch ganz gut weitergehen kann... Es wäre eigentlich viel bequemer den Weg weiterzugehen wie bis anhin. Aber vielleicht auch egoistisch? Warum muss man nur von den Leuten erfahren, denen es eben nicht gut geht? Mich würde deine Meinung interessieren. Herzlich. Stefanie, 34
Liebe Stefanie
Über Ihre Frage habe ich ein paar Tage nachdenken müssen, weil sie tatsächlich nicht ganz einfach ist. Weil aber tagelanges Nachdenken auch nicht viel mehr bringt, als stundenweises Nachdenken, habe ich ab und an etwas E! geschaut.
E! ist ein ganz wunderbarer Sender, den ich als Digital-TV-Konsumentin der ersten Stunde schon seit ein paar Jahren verfolge. Dieser Sender bietet höchst inspirierenden Menschen eine Heimat, die sonst vollkommen verkannt, und unter dem Ausschluss der Öffentlichkeit, ihr aufregendes Leben leben müssten. Wie zum Beispiel die Familie Jenner-Kardashian, die sonst höchstens kennen würde, wer den O.J.Simpson Prozess hautnah mitverfolgt hat. Nachdem der Vater von Kim, der Köbi Kardashian nämlich den O.J. im Mordprozess verteidigt hatte, obwohl die Kardashians doch eigentlich auch mit der Stefanie eng befreundet waren, hing der Haussegen etwas schief und bald darauf wurde dann auch geschieden. Dass die etwas aus der Art geratene Khloe Kardashian dem O.J. etwas ähnlicher sieht, als dem armenischen Papa, hat den Schritt damals vielleicht etwas einfacher gemacht, aber das ist jetzt nur eine Vermutung meinerseits.
Und dann gibt es da noch die Dokusoap über das wunderbare Paar Giuliana und Bill Rancic, die sich praktisch vor laufender Kamera kennengelernt hatten und das dann auch konsequent so weiterzogen. Giuliana, die sich als italienische Einwanderertochter zur TV-Ikone hochgearbeitet hatte, verliebte sich während einem Interview in Bill Rancic, der die 1. Staffel von 'The Apprentice', der Castingshow des Mannes mit der ambitioniertesten Frisur Amerikas, Donald Trump, gewonnen hatte. Die Verlobung und die Hochzeit der beiden folgten auf dem Fuss und waren der Beginn des grossen TV-Happenings "Giuliana & Bill". Sie werden sich jetzt sicher seit längerem schon fragen, warum ich um Himmels Willen von diesen TV-Kanal und diesen furchtbar oberflächlichen Menschen schreibe und ich werde es Ihnen auch schon bald erklären.
Ich habe nämlich ein Faible für oberflächlich betrachtet oberflächliche Menschen, die sich in Doku-Soaps über die Farbe von Tapeten streiten. Es ist ein wunderbarer Ausgleich zu meiner Arbeit als Coach, wo ich tagtäglich zusammen mit echten Menschen an echten Themen arbeite. Darum mag ich es, wenn ich der Giuliana dabei zusehen kann, wie sie sich wundert, dass sie nicht schwanger wird, obwohl sie bei einer Körpergrösse, die die meine um mindestens 2 Köpfe überragt, ungefähr soviel wiegt wie meine linke Brust. Und darum habe ich auch zugesehen, als sie mit ihrem Mann Bill in eine Spezialklinik gefahren ist, um sich künstlich befruchten zu lassen. Natürlich habe ich da immer noch gehofft, dass ihr endlich ein Arzt sagen würde, dass sie viel zu dünn ist, um ein Kind auszutragen. Aber stattdessen hat er sie in die Standart-Voruntersuchung geschickt und ihr ein paar Tage später mitgeteilt, dass die Brustkrebs hat. Die ganze Filmentourage war dabei, als sie den Telefonanruf erhielt und unter der Nachricht beinahe zusammenbrach.
Damit hatte natürlich kein Mensch gerechnet, denn es sollte schliesslich eine seichte TV-Serie über zwei Emporkömmlinge werden, die den ganz grossen Traum zusammen erleben. Ich war überzeugt davon, dass man die Aktion abbrechen würde, weil eine Krebserkrankung schlecht in ein solches Format passt und weil die immerzu top gestylte Giuliana nicht vor laufender Kamera ihr Make-up zerweinen wollte. Aber es kam anders. Nach ein paar Tagen Bedenkfrist entschied sie sich dazu, die Soap weiter zu drehen und mit der Krankheit öffentlich zu leben. Die Kamera war fortan dabei, wenn sie sich Zuhause in den Schlaf weinte, wenn sie mit ihrem Mann darüber sprach, ob er sie auch ohne wallende Mähne lieben würde und auch bei ihrem Entscheid, sich beide Brüste amputieren zu lassen. Ganz Amerika und ein Teil Europas sah dabei zu, wie ein persönlicher Traum Stück für Stück in Scherben brach und wie Giuliana trotzdem nicht aufgab.
Heute haben die beiden Dank einer Leihmutter einen kleinen Sohn und Giuliana Dank ihrem mutigen Schritt zur Mastektomie keinen Krebs mehr. Giuliana macht sich Sorgen darüber, ob die Mutterschaft ihrem Mojo (Sexappeal) schadet und Bill jettet wieder quer durchs Land um Vorträge über seinen Erfolg als Unternehmer zu halten.
Mein Umfeld belächelt mich dafür, dass ich die beiden mag und an ihrem Leben so teilhabe. Aber die beiden haben mich mit ihrem Mut ehrlich beeindruckt und ich bin sicher, dass sie mit ihrem Entscheid, trotz der Krankheit online zu bleiben, viele andere Frauen mit Brustkrebs inspiriert und ermutigt haben.
Und darum kann ich nur zu gut verstehen, dass auch Sie mit dem Gedanken spielen, mit Ihrer Erkrankung in die Öffentlichkeit zu gehen. 10 Jahre lang haben Sie das Thema mit sich herumgetragen und es mit niemandem geteilt und das war sicher keine einfache Zeit für Sie. Inzwischen haben Sie gelernt, mit der Krankheit zu leben und spielen darum mit dem Gedanken, ihr grösseres Umfeld einzuweihen und damit anderen Menschen Mut zu machen. Ich finde diesen Gedankengang im Prinzip richtig und dennoch habe ich ein paar Argumente, die ich Ihnen vor dem "Coming-out" gerne mitgeben würde.
Sie gelten heute als aktiver, gesunder Mensch. Für die Anderen, aber auch für sich selber. Wenn Sie sich entschliessen, mit dem Thema nach aussen zu gehen, wird die Krankheit automatisch zu Ihrem ständigen Begleiter. Sie werden viel darüber reden müssen und das Thema wird viel mehr Platz einnehmen, als es heute in ihrem Leben hat. Sie werden mit Menschen in Kontakt kommen, bei denen die Krankheit weniger optimistisch verläuft, als bei Ihnen. Es wird Menschen geben, die sich um Sie sorgen werden und eine hundskommune Grippe kann in Ihrem Umfeld auf einmal viel Stress auslösen. Sie werden von einer Sekunde auf die andere nicht mehr einfach eine gesunde Frau sein, sondern eine, in der eine ernsthafte Krankheit schlummert, die jederzeit wieder ausbrechen kann.
Vielleicht wirkt Ihr Schweigen im Nachhinein etwas unbedarft auf Sie, egoistisch ist es aber nicht. Denn bestimmt hätten Sie sich gerne ab und an jemandem anvertraut, der Ihnen zugehört und Sie getröstet hätte. Auf der anderen Seite haben Sie sich mit dieser Entscheidung unbewusst auch fürs Gesund sein entschieden. Wenn ich auch nicht denke, dass man eine Krankheit wie MS oder Krebs mit Kraft von positiven Gedanken heilen kann, so bin ich trotzdem zu hundert Prozent davon überzeugt, dass jeder optimistische Gedanke die Heilung unterstützt. Mit Ihrer Verweigerung über das Thema zu reden, haben Sie sich gleichzeitig auch verweigert, sich der Krankheit hinzugeben.
Vielleicht ist jetzt der Moment gekommen, wo Sie genügend Abstand dazu haben, um darüber reden zu können. Sie befinden sich in einem laufenden Prozess und es ist wichtig, dass Sie jetzt gut auf sich selber hören und keine zu grossen Schritte unternehmen. Anstatt in einem Anflug von Euphorie in einem Forum oder an der Dorfversammlung darüber zu berichten, wäre es sicher sinnvoll, der besten Freundin davon zu erzählen. Man kann im Voraus nie genau beurteilen, was mit einem passiert, wenn man über ein Thema spricht, dass man lange für sich behalten hat. Darum rate ich Ihnen dazu, die Sache langsam und behutsam anzugehen.
Ich danke Ihnen für Ihre persönliche Frage und Ihr Vertrauen, liebe Stefanie. Bitte verzeihen Sie mir, dass ich die Antwort so schrecklich oberflächlich und unpersönlich beginnen musste. Es ist meine eigenes Unvermögen, das mich manchmal dazu zwingt, über komische Umwege in die Tiefen eines Themas zu gelangen.
Von Herzen alles Liebe und Gute. Ihre Kafi.