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Liebe Kafi, Im Frühling ist meine zweite Tochter ausgezogen. Die Ältere schon von 5 Jahren. Fast gleichzeitig hat sich mein Partner mit fadenscheiniger Begründung verabschiedet (er hatte da aber schon eine andere). Es kam noch ein Wasserschaden im Badezimmer dazu, was eine Sanierung des Obergeschosses mit sich bringt. Und zu guter (oder unguter) Letzt, erkrankte ich an einer furchtbaren Zahnfleischentzündung, worauf ich zwei Zähne ziehen musste und jetzt eine teure Zahnsanierung über mich ergehen lassen muss. Seither wohne ich zwar in einem schönen Haus (mindestens im Erdgeschoss) aber ich fühle mich mausbeinalleine. Diese Tiefschläge haben mir sehr viel Energie geraubt und meinen Glauben an das Gute tief erschüttert. Ich weiss aber, dass ich mein Leben irgendwie wieder in den Griff kriegen muss und will. Nur weiss ich nicht wie? Ich habe wenig Durchstehvermögen, nichts vermag mich wirklich zu begeistern. Ich möchte aus diesem lethargischen Zustand raus und finde doch nichts, was mein inneres Feuer wieder zum Lodern bringt. Mein Job ist sehr herausfordernd und zur Zeit der einzige Motor. Das kann es doch aber nicht sein auf die Dauer. Hast du mir einen Tipp wie ich mich wieder auf Kurs bringe und die Freude wieder finde am Leben. Mit 54 fühle ich mich noch fit und unternehmungslustig, aber die Energie und vor allen die Ideen fehlt um aktiv zu werden und herauszufinden, was mich auch längerfristig begeistern könnte. Herzliche Grüsse, Mirella, 54

Liebe Mirella

Ihre Frage hat mich am letzten Freitag erreicht und sehr berührt. So sehr, dass ich Ihnen bereits am Samstag antworten wollte, obwohl ich ja sonst am Wochenende nicht schreibe. Sie haben so einiges wegstecken müssen, die letzte Zeit. Ich kann sehr gut nachempfinden, wie viel Energie und Kraft Sie das gekostet haben muss. Und das alles und noch viel mehr wollte ich grad als erstes am Samstagmorgen als Antwort auf meinen Blog schreiben, war dann aber leider zu faul. Dann wollte ich es am Samstagabend vor dem zu Bett gehen schreiben, war dann aber leider zu faul. Und auch den ganzen Sonntag über wollte ich eine Antwort verfassen, war dann aber ebenfalls leider viel zu faul.

Und heute ist Montag und ich muss Ihnen sagen, ich bin wahnsinnig froh, dass ich das ganze Wochenende über zu faul zum Schreiben war. Weil wenn ich nicht so phlegmatisch rumgehangen wäre, dann hätte ich Ihnen gewiss geschrieben, dass Sie es nicht leicht haben. Dass der Abschied von zwei Töchtern bestimmt nicht einfach war und dass so eine Badezimmersanierung eine üble und kostspielige Sache ist, genau wie die der Zähne und des Zahnfleischs. Ich hätte Ihnen geschrieben, dass solche Rückschläge zwar zum Leben dazugehören, aber in dieser Dichte schwer zu packen sind. Und so weiter, und so fort.

Aber heute schreibe ich Ihnen etwas ganz anderes und das wird Ihnen vielleicht weniger gefallen, als was ich Ihnen am Samstag oder dann halt eben am Sonntag geschrieben hätte, aber ich bin überzeugt, dass Ihnen die Montags-Antwort unter dem Strich trotzdem mehr bringen wird.

Mit meiner Montagsoptik sehe ich es nämlich folgendermassen, liebe Mirella: Dass Ihre Töchter im Abstand von 5 Jahren ausgezogen sind, heisst auch, dass SIE sie fit gemacht haben für ein selbständiges Leben und dass die Beiden gesund und lebendig sind. (Ich habe einer Freundin letzte Wochen einen unbeholfenen Brief schreiben müssen, weil der Todestag ihres kleines Sohnes, der an Krebs gestorben ist, sich gejährt hat.) Dass Ihr Partner sich mit einer anderen davongemacht hat, heisst auch, dass Sie für einen gewissen Zeitraum eine Beziehung geführt haben und wissen, dass Sie dazu imstande sind. Dass Sie einen Wasserschaden im Obergeschoss hatten und deswegen das Badezimmer sanieren müssen, heisst auch, dass Sie ein Dach über dem Kopf und ein Badezimmer haben. Dass Sie die Sanierung selber tragen müssen, weisst vielleicht sogar auf Wohneigentum hin, aber da kann ich mich auch täuschen. Und was die Zähne betrifft, könnte ich nun schreiben, dass Sie sie nur ziehen lassen konnten, weil Sie davor welche hatten, aber dieses Bild hinkt den andern etwas hinterher in der Dramaturgie, das muss ich zugeben.

Was ich Ihnen aufzeigen möchte, liebe Mirella, ist einfach. Natürlich haben Sie im Moment das Gefühl, die ganze Welt habe sich gegen Sie verschworen und überhaupt! Aber wenn wir ehrlich sind und uns zusammen die Situation aus etwas mehr Abstand betrachten, dann ist dem nicht so. Sie haben zwei gesunde Töchter und bis auf Ihr Zahnfleisch und den Verlust von 2 Zähnen, sind auch Sie gesund. Sie hatten einen Partner, der sich leider als Arschloch entpuppt und Sie hintergangen hat (vermutlich ein Opfer des verbreiteten Grundlagenirrtums, über den ich jüngst geschrieben habe), aber Sie stehen deswegen nicht auf der Strasse, Sie haben ein Zuhause und Sie haben die Trennung überlebt. Sie haben einen Job, der Sie herausfordert und Sie antreibt. Hören Sie also um Gottes Willen auf zu jammern!

Wenn Sie etwas nüchtern Bilanz ziehen, dann erkennen Sie folgende "Verluste": 2 Töchter, die ausgezogen sind, (aber weiterhin Ihre Töchter bleiben). 1 Arschloch, das es nicht wert ist, weiterhin mit ihm zusammen zu sein. 2 Zähne und Geld für deren Ersatz, sowie für ein neues Badezimmer. Ist das alles wirklich so schlimm, wie Sie mir weismachen wollen? Haben Sie in Ihrer Umgebung keine Menschen, die grössere Sorgen haben als Sie im Moment?

Es sind ZÄHNE, es ist KOHLE!

Gehen Sie zum nächsten Fenster und werfen Sie ihr Selbstmitleid mit einem lauten Schrei heraus. Sie haben gelitten und Ihre Wunden geleckt und das ist auch gut so. Aber jetzt ist es Zeit, dass Sie den Kopf aus dem Sand ziehen und Ihr Leben wieder anpacken. Sie sind gesund! Sie sind, wie Sie selber schreiben, fit und unternehmungslustig! Dann machen Sie etwas daraus! Wenn Sie eine Freundin haben, dann gehen Sie mit Ihr wandern, oder ins Kino oder ein paar Gläser Wein kippen. Wenn Sie keine haben (oder Freundschaften ob Ihrer Trennung zerbrochen sind, das kenne ich selber sehr gut), dann schreiben Sie sich in einem Verein ein oder besuchen irgend einen Kurs. Es ist vollkommen egal, ob Sie Lust aufs Singen oder Töpfern haben. Das spielt im Moment keine Rolle. Wichtig ist nur, dass Sie unter Menschen kommen. Und dabei sehen, dass Sie nicht der einzige Mensch auf Erden sind, der ein Päckchen zu tragen hat. Leben Sie ihr Leben. Heute noch! (Und das ist ein Befehl!)

Alles Liebe und Gute. Ihre Kafi.

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