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Liebe Kafi. Ist Schüchternsein verwerflich? Mein Mann, ich, sowie auch unser 2,5 jähriger Sohn sind bei Ansammlungen von mehr als 3 Menschen sehr zurück haltend. Leider habe ich das Gefühl, dass dies meinem Sohn Steine in den Weg legen wird. Ich hab es mir nie abtrainieren können. Muss man das überhaupt? Vielen lieben Dank. Tina, 35

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Liebe Tina

Schüchternheit ist genau so verwerflich, wie Schlagfertigkeit verwerflich ist. Oder rotes Haar. Oder kurze Beine.

Ihr Mann und Sie sind beide schüchtern. Dennoch haben Sie es geschafft, sich kennen zu lernen und gemeinsam ein Kind zu zeugen. Die Schüchternheit wird demnach so arg unüberwindlich nicht sein. Sie können diesen Charakterzug als grosses Handicap sehen und so lange an Ihrem Kind und sich selber herumoptimieren, bis die Schüchternheit wirklich zu einem Problem wird. Oder aber Sie akzeptieren sich und Ihre Familie so, wie Sie sind. Es ist immer eine Entscheidung, wo man die Aufmerksamkeit hinlenken will. Ich kann meinen Blick auf meine Unzulänglichkeiten lenken oder auf diese bei meinem Sohn. Oder aber ich versuche, die Stärken an mir und ihm zu sehen. Wir alle haben Seiten an uns, die wahnsinnig toll sind und solche, die wir gerne etwas anders hätten. Unsere Gesellschaft ist sehr defizitorientiert, was ich als riesiges Problem sehe. Es wird uns eingetrichtert, dass wir in allem gut sein müssen und das fängt bereits in der Schule an. Wenn ein Kind in einem Fach eine Schwäche zeigt, dann wird das ganze Augenmerk auf dieses Fach gerichtet, anstatt dass man die Leistungen in den anderen Fächer noch mehr betont. So lernen wir schon sehr früh, dass man mehr Energie auf Schwächen, als auf Stärken legen muss.

Ich persönlich habe mich für einen anderen Weg entschieden. Als ich vor Jahren einmal von einer anderen Mutter gefragt wurde, bei welchem Logopäden ich meinen Sohn wegen seines Lispelns behandeln liesse, war ich sehr erstaunt, hatte ich seinen Sprachfehler bis zu diesem Zeitpunkt doch gar nicht zur Kenntnis genommen. Danach hörte auch ich ihn, aber ich beschloss, ihn weiter zu ignorieren, anstatt ihm meine Aufmerksamkeit zu schenken. Stattdessen konzentrierte ich mich auf all das, was mein Sohn an tollem mitbringt, auf seine beeindruckende soziale Kompetenz, auf seinen grossen Wortschatz und seine besondere Fähigkeit, Gefühle zu artikulieren. Hätte ich mein Ohr nur noch auf die unsauberen Zischlaute gelegt, alles andere wäre mir entgangen. Heute redet er einwandfrei, ohne dass ich seinem sprachlichen Makel Aufmerksamkeit geschenkt hätte.

Wenn wir anfangen, das Scheinwerferlicht auf unsere vielen wunderbaren und wertvollen Qualitäten zu legen, anstatt die weniger prächtigen zu überbetonen, dann profitiert jede Facette davon, die starke und die schwächere auch. Das bedeutet nicht, dass wir uns einreden sollen, perfekt zu sein. Und es bedeutet auch nicht, dass man nicht an sich arbeiten soll.  Aber wenn wir anfangen, unser Augenmerk auf positives zu lenken, dann verliert alles andere an Gewicht und kann sich in dieser Entspannung manchmal sogar ebenfalls positiv entwickeln. Wir alle sind ein Gesamtpaket an verschiedensten Seiten und solange wir Teile davon ablehnen, können wir uns nicht rundum gern haben. Und Menschen, die sich nicht rundum gern haben sind nicht fähig, andere in dieser Form zu akzeptieren.

Schenken Sie Ihrem Sohn Ihre Liebe für das, was er ist, nicht für das, was er sein könnte. Loben Sie ihn, wenn er Dinge tut, die ihm mit seiner Schüchternheit schwerfallen und Sie machen ihn, mit den Worten von Victor Frankl das wertvollste Geschenk, was Sie können. Der 1997 verstorbene Neurologe und Psychiater, ein Holocaust Überlebender, zeigte 1972 in einem grandiosen Vortrag, warum man Menschen grundsätzlich überbewerten sollte. Nach seiner Erkenntnis streben alle Menschen nach dem Bild, was andere von Ihnen haben. (Hätte er sein Augenmerk auf sein hanebüchenes Englisch gelegt, dieser auch noch nach über 40 Jahren bemerkenswerte Speech wäre niemals entstanden). Und zwar im Guten, wie im Schlechten. Wenn Sie nun also das Bild zementerien, dass Ihr Sohn auf Lebenszeit an einer Schüchternheit leiden muss, die Sie ihm mitgegeben haben (Schüchternheit ist demzufolge eine vererbbare Sache. Mit dieser Erkenntnis sollten Sie im grossen Stil an die Öffentlichkeit gehen, es ist bis dato nämlich nicht bekannt.), dann wird es mit ziemlicher Sicherheit auch so sein. Einfach weil Sie es "erwarten" und Ihr Kind grundsätzlich Ihren Erwartungen entsprechen will. Wenn Sie hingegen loben, dass er der erste Abkömmling Ihres Stammbaums ist, der mit beachtlicher Schlagfertigkeit und Beherztheit gesegnet ist, dann wird er sich in diese Richtung entwickeln. Und wenn Sie ganz aufmerksam mitgelesen haben, dann haben Sie vielleicht gemerkt, dass ich nicht "ohne Schüchternheit" geschrieben, sondern die positiv formulierten Gegenstücke zum Begriff verwendet habe. Wenn Sie nämlich anfangen, ständig darüber zu reden, was er NICHT ist (schüchtern), dann manchen Sie das Problem (Schüchternheit) dennoch zum Zentrum der Aufmerksamkeit.

In dieser Antwort habe ich das Konzept der Lenkung der Richtung der Aufmerksamkeit erklärt. Wenn man dieses in sein Leben integriert, dann wird man erstaunt sein, wie viel positiver das Leben plötzlich sein kann.

Mit herzlichem Gruss. Ihre Kafi

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