Liebe Kafi Nach dreieinhalb Jahren werde ich Sonntagnacht aus der geschlossenen facebook-Psychiatrie entlassen werden in die offene real-life-Psychiatrie. Ich fürchte mich vor diesem kleinen Schritt für die Menschheit, jedoch grossen Schritt für mich ungemein und frage mich, ob ich dies überhaupt überleben werde. Was meinst Du? Werde ich dies schaffen und kannst Du mir vielleicht ein paar Tipps geben, wie ich mich im Dschungel des Leben werde zurechtfinden können? Herzlich, Dein Thomas Binder, 50
Mein lieber Thomas
Du willst von mir wissen, ob es ein Leben nach dem endgültigen Verlassen von Facebook gibt? Darüber können wir nur spekulieren, so wie über die Möglichkeit der Reinkarnation, weil es ja niemanden gibt, der den Absprung für immer geschafft hat. Da gibt es den Max Küng, der seinen Ausstieg gross zelebriert hat und dann klammheimlich zurück kam und da gibt es die Kafi Freitag, die mal neun Monate weg vom Facebook-Fenster war, um dann kleinlaut zurückzukehren.
Du warst ein aktives Mitglied unserer Gemeinde und ich habe die Interaktion mit Dir immer sehr geschätzt und darum kann ich vorweg mal sagen: ich werde Dich vermissen Thomas. Aber natürlich verstehe ich Dich nur zu gut und das weisst Du auch.
Nun will ich Dir aber helfen, Dich in der Real-Life-Psychi wieder zurechtzufinden, weil es gibt da durchaus einige Tücken, die es zu beachten gibt, um nicht zu stolpern. Schliesslich hast Du dir in dreieinhalb Jahren so einiges angewöhnt, was da Draussen im realen Alltag nicht so gut ankommt, wie zum Beispiel das Stupsen. So beliebt es auf Facebook auch ist, es konnte sich im richtigen Leben nicht wirklich etablieren. Ich habe es ein paar mal versucht und auf Rolltreppen und in Fahrstühlen wildfremden Leuten meinen Ellbogen in die Rippen gerammt, aber das einzige was zurückkam, war ein konsternierter Blick und nicht ein einziges mal wurde fröhlich zurückgestupst. Es lohnt sich also, wenn Du darauf künftig verzichtest. Des Weiteren solltest Du Dir das Verteilen von Fotos an Menschen ausserhalb Deiner unmittelbaren Familie abgewöhnen, weil auch dieses Verhalten findet nebst Facebook kaum Anklang. Ich bin in meiner neunmonatigen FB-Abstinenz jeweils mit einem dicken Fotoalbum unter dem Arm unterwegs gewesen und ich war sehr enttäuscht, dass sich keiner ernsthaft für meine Bilder interessierte. Kein einziges "Like" konnte ich abholen, wenn ich von der Begeisterung einer alten Dame im Tram einmal absehe, aber auch diese wollte partout nicht begreifen, warum ich mich für ihr "jöööö härzig" nicht erwärmen konnte. Du wirst insgesamt weniger Bestätigung erhalten, das muss ich Dir leider sagen. Weil auch Deine Aussagen werden künftig nicht mehr "geliked", sondern höchstens abgenickt werden und wenn Du Glück hast, wirst Du ab und an mit einem Lacher belohnt. Den wirst Du aber in den ersten Monaten gar nicht erkennen, weil Du dich an die lautlose Form des :) gewöhnt hast und es eine Zeit dauern wird, bis Dein Hirn diese Querverbindung zwischen Laut und Freude wieder hergestellt hat und auch Deine Ohren werden einen Prozess der Neuorientierung durchlaufen müssen. Das chatten wird für Dich künftig wieder an der Kaffeemaschine stattfinden und übers Wetter wird im Fahrstuhl parliert. Du wirst nicht mehr so leicht mit wildfremden Menschen in Kontakt treten und Du wirst erkennen, dass die Hürde eine "normale" Email zu schreiben viel höher liegt, als es bei einer FB-Mail der Fall ist. Du wirst nicht mehr um Mitternacht mit Reini und mir über Toleranz philosophieren und Dich aber auch nicht mehr über nervende Stalker ärgern. Es wird sehr anders sein, soviel kann ich Dir versprechen. Vermutlich wirst Du mal wieder ein Buch lesen und ich hoffe, dass auch Deine Liebsten von Deinem Ausstieg profitieren werden. Du wirst Dich viel mehr auf Dich konzentrieren (müssen), weil Dir nicht mehr im Sekundentakt Belanglosigkeiten von Menschen, die Du kaum kennst, um die Ohren gehauen werden. Allerdings wirst Du auch mit Deinen allein sein.
Ich wünsche Dir und mir sehr, dass Du künftig mit lieben Menschen bei einem Glas Wein zusammensitzt und dabei Deinen grossartigen Optimismus und Deine von mir so geschätzte Lebenseinstellung verbreitest. Mich freut es, wenn Du dich ausserhalb von FB zurecht findest und der Phantomschmerz irgendwann gänzlich verschwindet. Noch mehr würde es mich allerdings freuen, wenn der Kontakt bestehen bliebe zwischen uns. Sei es bei Wein oder was auch immer und sofern es die Aufseher Deiner neuen Psychiatrie-Abteilung gutheissen, selbstverständlich. Gib mir darum vor Deinem Ausstieg unbedingt noch die Besuchszeiten und Deine Zimmernummer durch und klär ab, ob Gäste von der anderen Abteilung überhaupt Zulass haben! Danke!
Alles Liebe Thomas! Deine Kafi.