Liebe Kafi. Was ist wichtiger, Geld oder Lebenserfahrung? Ich meine, ich weiss schon ... Lebenserfahrung. Lass es mich anders formulieren: Wie weit darf ich die Waage aus dem Gleichgewicht bringen, wenn es um Arbeitserfahrungen geht? Zurzeit arbeite ich einigermassen gelangweilt in einem Büro und werde dafür durchschnittlich bezahlt, so dass ich mir einiges an Luxus leisten kann. Und diesen Luxus (wir sprechen von grosser Wohnung mit Garten und Verzehr von Biorüäbli und Konzertbesuchen) möchte ich nicht aufgeben. Kann ich nicht aufgeben. Gerade habe ich ein sehr sympathisches Angebot erhalten für einen Ausbildungsplatz als Sozialpädagogin. Dies bedeutet für mich aber 4 harte, deutlich unterbezahlte Jahre. Die Waage würde dann also von «Geld» zu «Erfahrung» fallen. So, dass ich danach ohne Erspartes dastehen werde. Ganze 30 Jahre alt und kein Geld. Das finde ich brutal unsexy. Aber immer noch viel sexier als in einem Job zu verrosten, der mir nicht gefällt. Sag mir also, liebe Kafi, wie würdest du mit meiner Situation umgehen? Und: gibt es einen überbezahlten Nebenjob, den du mir anbieten kannst? ;) Manuela, 26
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Liebe Manuela
Ihre Frage erstaunt mich auf mehreren Ebenen. Sie sind 26 Jahre alt und können Biorüebli & Co. nicht aufgeben, weil das unsexy wäre. Und gleichzeitig schreiben Sie kein einziges Wort darüber, was Ihnen an der Ausbildung zur Sozialpädagogin Freude machen würde. Steht diese Frage nur zur Diskussion, weil man Ihnen das angeboten hat, oder fliesst irgendwo Herzblut für diese Sache?
Wenn ich auf Wikipedia den Begriff Sozialpädagogik eingebe, erhalte ich folgenden Text:
«Sozialpädagogik benennt einen Wissenschaftszweig von Erziehung, Bildung und sozialstaatlicher Intervention. In der Sozialpädagogik wird versucht, die Eigenverantwortung eines jungen Menschen und damit seinen selbstständigen Umgang mit allgemeinen Lebenslagen in der Gesellschaft zu stärken. Da die Befähigung eines jungen Menschen, am gesellschaftlichen und öffentlichen Leben teilzunehmen, nicht bei jedem gleich ausgebildet ist, beschäftigt sich die Sozialpädagogik auch mit der Möglichkeit, gesellschaftliche Benachteiligungen abzubauen, die ebendiese Befähigung zum Ziel haben.»
Ich weiss ja nicht, wie es Ihnen beim Lesen dieses Textes im Kontext mit Ihrer Frage ergeht. Aber für mich ist es Situationskomik in Reinkultur. Da fragt mich eine 26-Jährige, die nicht für ein paar Jahre auf die grosse Wohnung und Biogemüse verzichten kann, ob sie eine Ausbildung antreten soll, welche zum Ziel hat, junge Menschen in der Stärkung der Eigenverantwortung und im Umgang mit allgemeinen Lebenslagen zu unterstützen. Wer in so einen Beruf gehen will, muss eine gesunde Dosis an Idealismus mitbringen. Den habe ich bei Ihnen weder auf, noch zwischen den Zeilen erkennen können.
In Anbetracht dessen, dass nicht selten genau die Menschen Psychologie studieren, die mit sich selber nicht klarkommen, sich aber lieber mit den Problemen und der Psyche anderer Menschen auseinandersetzen, als mit der eigenen, würde diese Berufswahl aber vermutlich schon Sinn ergeben.
Mag sein, dass Sie mich jetzt als etwas gar direkt und deutlich empfinden. Aber Ihre Frage und Ihr Wertesystem sind für mich auch ziemlich deutlich. Zweimal reden Sie von Luxus, dreimal erscheint der Begriff «Geld». Daran ist im Prinzip nichts auszusetzen, jeder Mensch hat eine eigene Hierarchie von Werten, die für ihn wichtig sind. Aber wenn Sie mir bereits mit 26 Jahren schreiben, dass Sie auf den aufgezählten Luxus nicht verzichten können, dann macht dies trotz alledem nachdenklich. Sind Sie wirklich nicht bereit, während einer absehbaren Zeitphase von vier Jahren auf gewisse Annehmlichkeiten zu verzichten, um dafür in die eigene berufliche (und auch persönliche) Weiterentwicklung zu investieren? Echt jetzt? Ja kann man denn noch kurzfristiger denken? Glauben Sie ernsthaft, dass dieser mittelmässige Bürojob während der kommenden mindestens 38 Jahre, die Sie bis zu Ihrer Pensionierung werden arbeiten müssen, Ihnen eine grosse Wohnung mit Garten, Biogemüse und Konzertbesuche wird garantieren können?
Und so jemandem soll ich einen überbezahlten Nebenjob anbieten? Da kümmere ich mich doch lieber selber um die anstrengenden, aber dafür extrem überbezahlten Aufgaben wie das Ablehnen von Freundschaftsanfragen auf Facebook und das nach Farbe sortieren meiner Abendgarderobe. (Dass hier kein zwinkerndes Smileygesicht steht, könnte auch dahingehend interpretiert werden, dass ich es irgendwie ernst meine.)
Mit gutem Grusse. Ihre Kafi.