Meine liebe Schweiz
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Liebe Schweiz
Mit Dir verbindet mich eine ambivalente Liebe. Ich bin Dein Kind, das ist wohl wahr. Doch mein Vaterland willst Du nicht sein. Dieses liegt unweit nördlicher und teilt mit Dir den Bodensee und unsere ungelenke Schriftsprache.
Als mein Vater in jungen Jahren aus Deutschland in die Schweiz kam, um hier eine Familie und eine Firma zu gründen, da hast Du ihm den Pass verweigert. Mich hast Du mit Handkuss und gegen eine Gebühr von 100 Franken angenommen. Vielleicht war dies mitunter ein Grund, dass ich die erstbeste Gelegenheit ergriffen habe, um mir den deutschen Pass zurückzuerobern. Seither gehöre ich Dir nur noch halb.
Wenn ich an der Urne stehe und mich über die Kompliziertheit Deiner direkten Demokratie und die dementsprechend tiefe Wahlbeteiligung aufrege, dann steht mein Kreuz stets in Europanähe. Mein Herz gehört Dir, aber ich bin auch ein Kind Europas. Ich bin der Pubertät entwachsen und sehe Dich als Elternteil realistisch an. Du hast Deine Stärken und für die liebe ich Dich sehr. Doch ebensoviele Schwächen machen Dich aus, und an diesen scheine ich manchmal fast zu verzweifeln. Die Arroganz, mit der Du Dich über alle anderen Länder Europas stellst und diese mit hocherhobenem Kinn und Zeigefinger belehrst, erinnert an die blindwütende Kaltherzigkeit, die Du anno dazumal an der Grenze hast walten lassen, als eigentlich ein grosses Herz gefragt gewesen wäre. Du bist auf die Idee des Stempels gekommen, der den Juden vom Nichtjuden hat unterschieden lassen. Du warst es auch, die sich nachher dumm und unwissend gestellt hat. Und Du bist es, die ihre Grenzen verteidigt und wegschaut, wo Hinschauen gefragt wäre.
Du kannst Dir das hübsche Umhängli der Neutralität überwerfen und gleichzeitig Kriegsmaterial in 71 Länder exportieren. Durch Deine Waffen sterben täglich 1000 Menschen und jeden Tag sind Zigmillionen vor Deinen Waffen auf der Flucht. Aufnehmen willst Du davon praktisch keine. Denn es ist ja nicht Dein Problem.
Du hast von Anfang an alles richtig gemacht, bist immer auf der "richtigen" Seite gestanden, gell? Es bleibt zu hoffen, dass Dir das auch in Zukunft immer so gut gelingen mag. Zu hoffen, dass sich der Zorn der Welt nie gegen Dich und Deine Geschäfte richten wird. Das wäre Dein Ende, selbst mit dem Dir verwehrten Gripen hättest Du kein Brot.
Besinn Dich lieber auf Deine humanitären Grundsätze und Deine grossartige Verfassung! Im nächsten Brief will ich Dich für Deine Stärken preisen. Bis dahin: Bleib sauber, lieb Mutterland! Im Wissen darum, dass Blutflecken auf weissem Grund schampar schlecht auswaschbar sind.